Ein Manifest für mehr Poesie im Alltag

Wie viele Stunden beschäftigen wir uns am Tag mit nützlichen, wichtigen, dringend  zu erledigenden, … langweiligen Dingen? Wie oft verschieben wir das, was uns wirklich Freude macht auf einen späteren Zeitpunkt? Wann verabreden wir uns spontan mit Freunden, ohne vorher zu planen, was unternommen wird? Weshalb wissen wir schon, was wir bestellen werden, bevor wir überhaupt das Restaurant betreten haben? Wann ist die Zeit für all das Unnötige, Unmessbare, Unkalkulierbare, das dem Leben erst die gewisse Würze verleiht? Warum wir nach der Poesie des Alltags suchen sollten und weshalb sie sich manchmal direkt vor unserer Nase befindet.

Es fiel mir besonders auf, als mein Mann und ich seit langer Zeit einmal wieder ins Museum gingen. Als ich vor zehn Jahren als Praktikantin alleine durch Paris streifte und das kostenlose Angebot sämtlicher Ausstellungen in Anspruch nahm, entdeckte ich den Bildhauer Auguste Rodin. Man könnte kaum etwas Romantischeres mit seinem Mann unternehmen, als einen Nachmittag lang die sinnlichen und emotionalen Werke dieses Künstlers in seinem Haus und Atelier zu betrachten. Zwei ineinandergreifende Hände aus Stein: der Inbegriff von Verbundenheit und Schönheit. Kunst bewirkt etwas in uns. Sie kann unseren Blickwinkel auf die Dinge verändern. Ich bekam sofort Lust auf mehr davon …

Das Leben genießen - eine Lebenseinstellung

Schöne Dinge werden in unserer Gesellschaft häufig mit Luxus verbunden und Luxus ist meistens etwas, das mit Verschwendung einhergeht, mit der man sich nicht gerade rühmen sollte. In Frankreich ist das anders. Hier heißt es se faire plaisir, sich etwas gönnen und man kann dies den ganzen lieben langen Tag betreiben, ohne dass es einem je vorgehalten würde. Vielleicht ist dies auch der wahre Grund, weshalb ich mein Leben hier verbringen wollte. Dabei geht es beim Genießen gar nicht mal um Luxus, sondern vielmehr um Achtsamkeit. Man muss sich eine Kaffeepause nicht verdienen, sondern man setzt sich gemütlich am Morgen ins Café, bevor man überhaupt ins Büro fährt. Man drückt öfters ein Auge zu, wenn das Stück Käse wieder viel zu teuer war, aber von der kleinen Käserei nebenan kommt, die ja so guten Käse herstellt! Man zelebriert Geburtstage mit Champagner und nimmt seinen gesamten Jahresurlaub in der schönsten Zeit des Jahres, während das Leben den halben Sommer lang ein wenig stillstehen darf, denn: Es ist ja Sommer. Dieses allzu bekannte Savoir-vivre ist etwas Kulturelles und will gelernt sein. Es ist aber eine Inspiration fürs Leben

Autoren finden, die unsere Sprache sprechen

In den letzten beiden Jahren hat sich mein Leseverhalten ziemlich verändert. Als Kind und Jugendliche waren Bücher immer Teil des Alltags. Spätestens an der Universität habe ich Lesen als Pflicht empfunden und über die Jahre mit dem Jobeinstieg und kleinem Kind nicht wieder ins Lesen als pures Freizeitvergnügen zurückgefunden. Bis eine Art Notwendigkeit auftauchte. Ich habe noch nie gerne Kriminalromane gelesen und tue es auch heute nicht. Ich brauchte einfach nur ein paar schöne Zeilen, treffende Worte auf einem Blatt Papier … Und irgendwann stieß ich auf den französischen Autor Philippe Delerm (auch ins Deutsche übersetzt, Der erste Schluck Bier oder Ein Croissant am Morgen. Das kleine Buch der Lebenskunst), der mir mit seiner Literatur wie aus der Seele spricht. Viele seiner Skripte wurden ihm anfangs wieder zurückgeschickt, doch der Erfolg kam, als die Leute schließlich seine Alltagspoesie verstanden hatten und wie amüsant, rührend und verwunderlich die kleinen Geschehnisse und Dinge des Lebens sein können. 

Mit jedem seiner Kapitel wird man wacher für das eigentliche Leben, das sich direkt vor einem, zwischen den eigenen vier Wänden, auf dem Weg zur Schule oder dem Spaziergang abspielt. Die einen mögen zutiefst gelangweilt sein, zu lesen, wie er einen praktischen Terrassenstuhl aus Plastik mit einem antiken Stuhl aus Holz vergleicht, den man jedes Mal bei Regenwetter wieder aufräumen muss … Ich kann nur allzu gut verstehen, dass ihm dieser antike Holzstuhl etwas bedeutet und nachvollziehen, dass Unpraktisches schlicht schöner ist (auch wenn ich immer schimpfe, dass wir schnell die Terrassenmöbel verräumen müssen)! 

Was auch noch auf meiner persönlichen Leseliste steht: Gedichte. Denn in der Poesie gibt es kein Ziel, das erreicht werden muss. Sie muss nicht logisch sein oder verstanden werden. Man kann sich einfach nur daran freuen und etwas für sich mitnehmen.

Platz für Unnötiges schaffen

Dass Dinge oder sogar unsere Handlungen immer einen Sinn erfüllen müssen, ist einer von vielen Glaubenssätzen, den ich versuche abzulegen. Unlogisches oder Leichtsinniges gehören zum Leben dazu und es muss nicht alles mit Zahlen belegt, gerechtfertigt oder gemessen werden. Gelegentlich etwas aus dem einzigen Grund zu kaufen, weil es uns gerade Freude bereitet, sollte uns nicht gleich in ein schlechtes Gewissen stürzen, sondern das erfüllen, weshalb wir uns dafür entschieden haben: Freude bereiten! Es geht hierbei nicht um unkontrolliertes Konsumverhalten, sondern im Gegenteil. Sich bewusst etwas Schönes zu gönnen ist mehr als überlegt. Es ist ein Geschenk von Herzen an uns selbst. Hübsche, unnötige Dinge finde ich immer in: frischen Blumen (die ja manchmal nach einigen Tagen schon verwelkt sind), Tischdecken (mit Kindern muss man sie nach einem Tag schon wieder waschen) oder Postkarten (die ich nie verschicke) … 


Wer mich in diesen Belangen besonders inspiriert, ist die Fotografin und Gründerin der Marke COSE Audrey Fitzjohn (und ihr Instagram-Account, hier), die eine wahre Liebe für Flohmärkte und Antikes hegt. Ein Eldorado der schönen Dinge und der Alltagspoesie! Sie findet Inspiration für Kleider in einem altertümlichen Gemälde, bei dem ihr auffällt, wie sich eine Falte im Ärmel gelegt hat oder fängt auf besonders poetische Weise das Licht ihres Hauses auf ihren Fotos ein.

Anhalten, ganz oft

Um für die Poesie des Alltags aufmerksamer zu werden, ist eines wohl unabdingbar: öfter am Tag einmal kurz anzuhalten. Nicht durch den Alltag hetzen, sondern häufiger - etwa wie beim Fahrradfahren - nach links und rechts blicken, während der Wind durchs Haar weht. Wie konnten wir im Erwachsenenalter bloß vergessen, was wir sicherlich als Kinder andauernd taten?

… Und dann muss man ja auch noch Zeit haben, einfach dazusitzen und vor sich hinzuschauen … 

(Astrid Lindgren, Pipi Langstrumpf)

Alltägliches in ein Ritual verwandeln

Wenn ich gelegentlich auf Formulierungen stoße wie “Beziehungskiller: Alltag” oder “Wenn dann der Alltag wieder einkehrt …” oder “gleichförmiges, tägliches Einerlei” bin ich immer wieder erstaunt, wie negativ unser tägliches Leben behaftet ist. Auch mein Mann kann nicht nachvollziehen, was mich an etwas Repetitivem so fasziniert. Was ich an der Definition des Alltags nicht treffend finde ist, dass er als gleichförmig bezeichnet wird. Kein Tag ist wie der andere. Alles, was wir erleben, erleben wir in seiner Form nur ein einziges Mal. Routinen werden für mich allerdings interessant, wenn man sie in ein Ritual verwandelt. Denn Rituale haben etwas Feierliches. Etwas, das wir täglich zelebrieren. Ist es nicht schön, täglich eine gewisse Sache zu feiern? Ein solches Alltagsritual kann schon ganz klein sein und auch die Tageszeit spielt dabei keine Rolle. Man sollte diese eine Handlung aber bewusst tun, ohne etwas damit erreichen zu wollen und sie genießen!

Natur, auch die um die Ecke

Es klingt wahrscheinlich etwas überholt. Wer es schafft, sich mehr Natur in den Alltag zu holen, verleiht ihm automatisch mehr Poesie. Denn in ihr verbergen sich all die kleinen Wunder unseres Lebens. Kinder sind hier eine besondere Inspiration, denn sie bleiben bei jeder winzigen, sich bewegenden Ameise stehen und beobachten. Gestern holte ich meine Tochter vom Kindergarten ab. Das Licht dämmerte gerade schon und zwischen dem Straßenlärm machte sich noch ein anderes Geräusch bemerkbar: Weit oben am Himmel kreiste eine Möwenschar - “Mama, das ist ja wie am Meer!” - Ja, die Normandie ist nicht sehr weit und Möwen bringen auch bei uns gelegentlich diesen Klang von Meer und Strand vorbei. Man muss einfach nur hinhören …

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Être parent aujourd’hui. Interview avec Aurore Cubier, coach parental.

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Mediterrane Herbst- und Weihnachtsdeko