Work, Life oder einfach nur Balance?
Man kann es ja eigentlich schon gar nicht mehr hören. Work-Life-Balance. Unternehmen nutzen es mittlerweile, um zukünftige Mitarbeiter zu werben: Tätigkeit mit “ausgewogener Work-Life-Balance” heißt es in der Stellenausschreibung. Wieso und seit wann denken wir, unser Leben in zwei Bereiche aufteilen zu müssen, so als würden wir zwischen Arbeit oder dem Leben wählen? Sind wir nicht einfach immer nur wir und das Leben einfach nur das Leben?
Wir alle nehmen im Laufe der Jahre verschiedene soziale Rollen ein. Zuerst sind wir das Kind unserer Eltern, später werden wir vielleicht zu Geschwistern. Wir sind Enkelkinder, Schüler*innen, Freund*innen, Singles, Partner*innen, Student*innen, Praktikant*innen, Jobeinsteiger*innen, Eltern usw. … Sich in all diesen Aufgaben 100 % wiederzufinden und stets sein Bestes zu geben ist eine Meisterleistung. In einer Gesellschaft, in der Performance großgeschrieben wird, wir immer mehr geben, ja die Selbstoptimierung sogar zum Marketingobjekt und das Glück zu einer Industrie wird, kommen wir nur schwer aus dem Kreislauf heraus, um einmal innezuhalten.
Was die Selbstoptimierung anbelangt, zähle ich zu den Fans der ersten Stunde. Sich auf der ganzen Ebene wohlfühlen, in allen Bereichen des Lebens eins sein mit seinen Gedanken und Werten ist dabei das große Ziel. Auch dies steht wieder in Verbindung mit dem Zeitgeist und grenzt an Perfektion. Oder sollte man das Kind beim Namen nennen - Illusion?
Auch wenn ich davon überzeugt bin, dass jeder seines eigenes Glückes Schmied ist und einem das persönliche Wohlbefinden nicht einfach so in den Schoß fällt, hat für mich der Begriff der Optimierung einen ungemütlichen Beigeschmack. Ich verbinde ihn mit Druck, einem weiteren Punkt auf der To-do Liste, noch etwas, das wir erreichen müssen (wollen?), um uns endlich nach der harten Arbeit zufrieden zurücklehnen zu können.
Ziele der Work-Life-Balance?
Was ist denn eigentlich das Ziel einer Work-Life-Balance? Sollen wir unser Privatleben so gestalten, damit wir uns gut fühlen, um dann besser bei der Arbeit performen zu können? Oder brauchen wir ein gesundes Arbeitsleben für unser Wellbeing im Privatleben? Wenn wir uns ständig auf nur zwei Bereiche unseres Lebens konzentrieren, ohne dabei für uns selbst entschieden zu haben, ob sie überhaupt zu unseren Prioritäten zählen, verlieren wir dabei nicht manchmal den Fokus auf das Wesentliche (das, was für uns wirklich eine Balance schaffen kann)? Tragen wir uns selbst in der Gesamtheit all unserer sozialen Rollen nicht ständig und überall herum? Denken wir nicht auch bei der Arbeit an unsere Familie und persönlichen Sorgen oder fällt uns nicht zu Hause beim Abendessen ein, dass wir vergessen haben, diese eine E-Mail abzuschicken?
Für mich liegt die Schwierigkeit darin, beide Bereiche als getrennt zu betrachten. Es fängt schon an, wenn ich mir jedes Jahr einen neuen Kalender zulege - ja, ich gehöre definitiv zur Fraktion der Papier-Kalender! Schon hier steht bei mir “Montag: Newsletter vorbereiten” neben “Dienstag: Geburtstagskuchen für meine Tochter backen”. Sollte ich mir einen zweiten Kalender zulegen?
Ich glaube nicht, dass wir es schaffen, unsere Balance zwischen Arbeits- und Privatleben zu finden, indem wir ständig versuchen, Gewichte von einer Seite der Waage auf die andere zu schieben. Es wäre viel zu einfach. Reduzieren wir beispielsweise unsere Arbeitsstunden, um mehr Zeit in unser Privatleben zu investieren (also, eine ausgewogenere Work-Life-Balance herzustellen) stehen wir bald vor der nächsten, uns aus dem Gleichgewicht bringenden Konsequenz. Wir stellen fest, weniger arbeiten = weniger Einkommen und die Frage kommt wieder zurück: Wo ist sie hin, diese Balance? Oder wir merken, wie wichtig uns unser Job ist, dass wir finanziell besser dastehen möchten und gestehen uns später ein, dass uns die Zeit für Freunde und Familie fehlt.
Warum Arbeit und Leben nicht gegenübergestellt werden müssen
Balance ist so viel mehr als das! Sie betrifft nicht nur zwei Bereiche, die miteinander konkurrieren. Es kann auch nicht darum gehen, diese ständig miteinander ausloten zu müssen, um zum optimalen Glück zu gelangen. Liegt Balance nicht in erster Linie in uns selbst und ALLEM, was uns ausmacht? Dazu gehören unsere Vergangenheit und unsere Erfahrungen aus der Kindheit wie auch unsere intimsten Wünsche. Ein Potpourri an Emotionen und Einstellungen zieht sich durch unser gesamtes Leben und befindet sich in stetigem Wandel. So verändern sich auch unsere Bedürfnisse in den verschiedenen sozialen Rollen, die wir im Laufe unseres Lebens einnehmen.
„Das Leben ist wie ein Fahrrad. Man muss sich vorwärts bewegen, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren.“, so einst Albert Einstein.
Wir müssen also immer strampeln, um vorwärts zu kommen und dabei alle Räder des Mechanismus in Bewegung halten. Arbeit ist eben eines dieser Räder. Sie ist ein Teil vom großen Ganzen, das wir als unser Leben bezeichnen. Wir brauchen aber auch einen Helm, um uns vor Unfällen zu schützen, eine Lampe, um bei Dunkelheit klarer zu sehen oder ein bisschen Schmiere, um die Kette zu ölen … Wenn wir beim Fahren nicht umfallen wollen, betrachten wir alle Teile unseres Fahrrads und konzentrieren uns nicht nur auf das eine Rad oder den Helm.
Dass sich die Arbeitswelt all unseren Bedürfnissen anpassen wird und wir dies von ihr auch bewusst einfordern halte ich für absolut erstrebenswert. Allerdings sind unsere Bedürfnisse so individuell (der eine ist mit einem Obstkorb im Open Space überglücklich, während der andere sich nur mit 100 % Remote-Arbeit wohlfühlt und wieder andere sich nach einem kompetenten Manager sehnen), dass nicht unbedingt jedermann seinen idealen Platz finden wird.
Brauchen wir überhaupt eine Work-Life-Balance?
Die Journalistin und Autorin Perla Servan-Schreiber, (die französische Oprah), beruft sich in ihren Texten häufig auf den indischen Philosophen Svâmi Prajnânpad, der ihr verdeutlicht hat, dass man sich das Leben häufig komplizierter gestaltet, als es ist. Was ihr dabei hilft, mehr im Gleichgewicht zu sein? - Die Realität mit offenen Armen zu akzeptieren. Dabei geht es nicht darum, die Arme zu verschränken und sich seinem Schicksal zu ergeben, sondern lediglich einen realistischen Ausgangspunkt zu erkennen, um die richtigen Entscheidungen für sich zu treffen.
Zu akzeptieren, dass nicht immer alles im Gleichgewicht steht und uns mal Gutes, mal Schlechtes widerfährt (ohne das wir das Gute ja überhaupt nicht wahrnehmen würden!) spielt dabei eine große Rolle.
Könnte ein bisschen mehr Akzeptanz dieses Lifes mit all seinen Höhen und Tiefen das Tor zur Balance öffnen? Wenn bei der Verwirklichung unserer Ziele und Wünsche auf allen Ebenen nicht ständig so beharrlich und “performend” wären, stünden die Chancen für eine Balance möglicherweise höher.
Vielleicht wird dann auch das Streben nach der idealen Work-Life-Balance hinfällig? Drehen wir uns nicht ständig im Kreis um Arbeit oder Leben, bleibt uns am Ende möglicherweise eins: die Balance…